
Interview mit Dr. Hansjörg Becker, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeut
"Neue Routinen helfen, die Krise zu bewältigen"
Viele Menschen erleben derzeit Verunsicherung und intensive Gefühle. Im Interview erklärt Dr. Hansjörg Becker, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeut, was das Besondere an der jetzigen Situation ist, wie psychische Krisen ablaufen und wie wir einen guten Umgang mit der Ausnahmesituation finden.
Herr Dr. Becker, Sie haben in Ihrer Karriere schon viele Menschen in Krisensituationen begleitet. Unterscheidet sich die aktuelle Situation von „normalen“ Krisen?
Das kann man sicher sagen. Wir erleben eine einmalige Situation, die sich von „normalen“, individuellen Krisen unterscheidet: Die Coronavirus-Pandemie betrifft wirklich alle Menschen weltweit. Das birgt zum einen das Risiko, sich gemeinsam, quasi weltumspannend in Panik zu steigern. Aber es gibt auch eine Chance, die darin besteht, dass wir diese Krise nur gemeinsam überwinden können. Das kann Verbundenheit und Zuversicht schaffen.
Was wissen wir grundsätzlich darüber, wie Menschen auf Krisen reagieren?
Krisen verlaufen nach typischen Phasen, die auch jetzt gelten. Es beginnt mit einer Art Schockstarre. Das heißt, wir halten inne und schauen, was passiert. Wir haben oft wenig Verständnis für die Situation, sind gestresst. Darauf folgte die Verleugnung. Hier greift unsere Psyche zu einem Trick, um das Geschehen auszuhalten. Wir halten uns für unverwundbar und denken zum Beispiel „Das kann nicht wahr sein“ oder „Mich betrifft das nicht“. Die besagten sogenannten Corona-Partys gehören sicher dazu. In der dritten Phase kommt es zu turbulenten Gefühlen wie Panik, Wut, Verzweiflung und natürlich Angst. Diese können sich abwechseln. Man beginnt aber schon zu ahnen und zu begreifen, dass sich die Realität wirklich verändert und nicht mehr unseren Wünschen entspricht. Mit unseren Gefühlen kämpfen wir aber noch dagegen an. Zum Schluss kommt es dann zur Akzeptanz. Die neue Realität lässt sich nicht mehr leugnen. Wir empfinden Trauer und nehmen Abschied. Das ist wichtig, damit es weitergehen kann. Anschließend sind wir bereit die neue Situation zu bewältigen.

Viele treibt ein mulmiges Gefühl um, andere plagen existenzielle Ängste. Wie sollten wir damit ganz persönlich umgehen? Woran merken wir, ob unsere derzeitige Reaktion „angemessen“ ist?
Unsere Aufgabe ist es gewissermaßen, die Ungewissheit auszuhalten. Es hilft uns hier, sich an bestehenden „Leitplanken“ zu orientieren. Regeln wie zuhause bleiben, Abstand halten, Hände waschen bieten eine Art von Mindestorientierung. Und sie tragen dazu bei, dass wir uns als Teil einer Gemeinschaft fühlen, weil sie für alle gelten. Dass unsere Wahrnehmung schwankt und wir den Zustand mal angemessen und mal übertrieben finden, ist vollkommen okay und lässt sich nicht verhindern.
Wie können wir damit umgehen, wenn Partner*innen oder Chef*innen völlig anders reagieren?
Wir sollten miteinander unbedingt im Dialog bleiben. Der Austausch ist wichtig. Wenn wir uns mit anderen Reaktionsweisen und Ansichten auseinandersetzen, kann das zu einem Perspektivwechsel führen. Und es trägt dazu bei, dass wir die Verbindung untereinander nicht abreißen lassen. Denn wie gesagt: Gemeinsam können wir diese Krise viel besser aushalten. Angst kann auch etwas Verbindendes haben – wir rücken psychisch zusammen, obwohl wir uns physisch voneinander fernhalten müssen.
Täglich werden uns neue Entscheidungen und auch Einschränkungen unserer Freiheit präsentiert. Was macht das mit unserem seelischen Befinden?
Die Einschränkungen, die wir erleben, sind schon extrem und mit unserem normalen Tagesablauf wenig zu vereinbaren. Das können wir leichter aushalten, wenn wir verstehen, dass all dies nicht aus Willkür geschieht, sondern nach wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Politik hat hier sehr vertrauensfördernd agiert, indem sie immer offengelegt hat, dass auch sie nicht alle Antworten hat und dass sie jeden Tag Entscheidungen nach ihrem besten Wissen trifft. Aber klar ist auch: Der Wegfall der sozialen Kontakte ist für viele Menschen eine wahnsinnige Herausforderung. Das trifft gerade jene hart, die an psychischen Erkrankungen leiden, eine Neigung zu Depressionen haben oder schlichtweg sozial benachteiligt sind. Auch sie gehören zu den heute viel beschworenen „Risikogruppen“.
Ein Teil der Beschäftigten muss heute enorme Mehrbelastungen stemmen, andere haben wenig oder gar nichts zu tun, weil Tätigkeiten weggefallen oder im Moment nicht zu bearbeiten sind. Wie kommen diese Menschen mit ihrer neuen Arbeitsrealität klar?
Es gilt wie bei allen Krisen: Personen, die generell offen für Neues sind, kommen jetzt besser zurecht als diejenigen, die stark an Bestehendem festhalten. Das trifft auch in der Arbeitswelt zu. Deshalb ist es so wichtig, dass gerade die Führungskräfte alle Menschen im Team im Blick behalten. Ihre Aufgabe ist es, die Bindung aufrechtzuerhalten über Dialog, Austausch, Gespräch. Eine regelmäßige Kontaktaufnahme zu den Mitarbeitenden kann viel bewirken und gibt ihnen das Gefühl, nicht allein mit der Situation zu sein.
Für die meisten ist unvorstellbar, dass dieser Zustand auf unbestimmte Zeit so weitergeht. Können sich Menschen an diesen Ausnahmezustand gewöhnen?
Ja, man kann sich an viel gewöhnen. Das ist aber per se nicht schlecht. Das heißt, Menschen entwickeln auch neue Routinen, die den veränderten Zustand dann weniger außergewöhnlich machen. Und das ist in psychologischer Hinsicht auch gut so, denn es reduziert Unruhe und Panik. Es hilft uns, Krisen zu bewältigen.
An wen können sich denn Menschen im Ernstfall wenden?
Es gibt viele Beratungs- und Unterstützungsangebote in Deutschland. Neben den speziellen „Corona-Hotlines“ gibt es zahlreiche regionale Anlaufstellen: Beratungsstellen öffentlicher Träger zu nahezu allen Themen; Jugendämter, wenn es um zugespitzte familiäre Situationen geht; niedergelassene Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten bzw. die Kassenärztlichen Vereinigungen bei seelischen Belastungen, Stress und psychischen Krisen; die Telefonseelsorge, wenn man anonym bleiben möchte. In der jetzigen Situation kann es vorkommen, dass manche Beratungsangebote überlastet sind. Man braucht also auch hier etwas Geduld. Ich hoffe sehr, dass die Erfahrungen der aktuellen Krise dabei helfen, diese Angebote in Zukunft noch besser zu koordinieren und zu steuern.
Was raten Sie Familien, die derzeit „aufeinander hocken“, was jenen, die isoliert von Angehörigen, Freund*innen und Kolleg*innen sind?
Sie sollten Routinen aufbauen und sich nicht von Stimmungen und Launen treiben lassen. Vor allem Kinder brauchen Strukturen, einen roten Faden, der durch den Tag führt. Das gilt übrigens auch für Menschen, die allein leben: Sorgen Sie für eine aktive Tagesstruktur wie Aufstehen zu festen Zeiten, Duschen, auch wenn man nicht das Haus verlässt usw. Nehmen Sie alte Kontakte wieder auf. All das schafft Stabilität.
Wie kann es uns gelingen, unsere psychischen Reserven wieder aufzufüllen?
Erstens sollte sich jede und jeder selbst fragen: Was hat mir früher schon einmal geholfen? Das kann man jetzt wiederholen. Zweitens: Man sollte sich unbedingt mit anderen austauschen. Die modernen Kommunikationsmöglichkeiten sind hierfür ein Segen. Und drittens: Bestimmen Sie Ihren eigenen Beitrag in der Krise. Was kann ich für andere tun? Was kann ich leisten?
Zum Schluss: Wie gehen Sie selbst mit der Krise um? Was hilft Ihnen, in diesen Zeiten nicht den Überblick zu verlieren?
Auch ich bin im Home-Office mit meiner Frau. Wir sprechen und tauschen uns über die Situation aus, aber nicht zu viel. Auch mit den Kindern, die nicht mehr bei uns leben, bleiben wir natürlich in Verbindung. Für mich ist wichtig, sich gedanklich auch mit anderen Dingen zu beschäftigen als der Krise. Es gibt ja weiterhin interessante Themen und Aufgaben. Zum Beispiel bereite ich mich jetzt auf die Zeit nach der Krise vor, arbeite an Konzepten usw. So habe ich abends das Gefühl, etwas getan zu haben. Außerdem dosiere ich meine Informationsaufnahme auf einmal am Tag. Das reicht aus.
Dr. Hansjörg Becker ist Psychiater und Psychotherapeut. Als Gründer und Geschäftsführer von INSITE, einem Beratungsdienst für Beschäftigte von Unternehmen, hat er sich viele Jahre lang mit der Organisation psychosozialer Unterstützungssysteme beschäftigt. Heute berät er Unternehmen, Führungskräfte und Personen im Umgang mit kritischen Lebenssituationen.