Interview mit Prof. Dr. Borwin Bandelow

"Wir brauchen einen gesunden Fatalismus"

Die aktuelle Situation bedeutet für die meisten von uns, dass die psychische Balance aus dem Gleichgewicht gerät. Doch schon vorher litten in Deutschland Millionen Menschen unter psychischen Erkrankungen. Im Interview beantwortet der renommierte Experte für Angsterkrankungen Prof. Dr. Borwin Bandelow, was die Krise für Betroffene bedeutet und was wir tun können, um einen kühlen Kopf zu bewahren.  

Herr Bandelow, nach Zahlen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) gibt es in Deutschland fast 18 Millionen Menschen mit psychischen Erkrankungen, von denen fast jeder fünfte in Behandlung ist. Welche Folgen hat der derzeitige Ausnahmezustand für diese Menschen?

Die ganze Nation macht sich derzeit Sorgen. Daher ist es mehr als verständlich, dass sich gerade Betroffene mit Angsterkrankungen, Depressionen und anderen seelischen Erkrankungen noch mehr ängstigen. Dabei handelt es sich um Menschen, die ohnehin dazu neigen, sich übergroße Sorgen zu machen. Sie werden in den nächsten Wochen und Monaten wohl deutlich mehr leiden. Dennoch weiß man aus früheren Krisen, dass Ereignisse wie die Terroranschläge vom 11. September 2001 oder Virusepidemien wie SARS und Ebola nicht zu einem sprunghaften Anstieg von psychischen Erkrankungen führten. Derzeit haben wir allerdings eine nie dagewesene Pandemie, die uns alle in irgendeiner Form betrifft. Was die Folgen sein werden, ist noch nicht abzusehen. Sicher ist aber, dass die ohnehin schon schwierige soziale Isolation vieler Menschen mit seelischen Erkrankungen noch verstärkt wird. Auch Arbeitslosigkeit ist unter psychisch kranken Menschen weit verbreitet. Wenn es in den nächsten Monaten zu einer Wirtschaftskrise mit Arbeitsplatzabbau kommt, werden sie als erste davon betroffen sein.

Wir stocken derzeit die Intensivbetten in Krankenhäusern auf. Müssten die Psychiatrien und das psychosoziale Versorgungssystem nicht auch Vorsorgemaßnahmen treffen?

Ich gehe nicht davon aus, dass die Zahl der Betten in psychiatrischen Kliniken erhöht werden muss. Vielmehr muss sogar überlegt werden, bei einer massiven Zunahme der Covid-19-Fälle Patientinnen und Patienten aus psychiatrischen oder psychotherapeutischen Kliniken zu entlassen, um Platz zu schaffen und die internistischen Abteilungen zu entlasten. Das gilt selbstverständlich nicht für die Menschen, die sich selbst oder andere gefährden. Wenn man diesen Weg geht, wird allerdings die Behandlung der entlassenen psychiatrischen Patientinnen und Patienten leiden oder sich zumindest deutlich verzögern, denn psychiatrische Kliniken waren schon vor Corona häufig überbelegt. Sorgen mache ich mir um die psychosomatischen Kliniken. Die therapeutische Arbeit erfolgt hier zu großen Teilen in Gruppen. Einige Tageskliniken mussten schon schließen. Das ist für Menschen, die diese Unterstützung dringend brauchen, eine große Herausforderung. 

Gibt es in der jetzigen Situation genügend Angebote, bei denen Betroffene Hilfe finden können?

Die Angebote gibt es, allerdings verändert die Krise auch hier die Abläufe. Menschen gehen oft nicht mehr zu ihren Therapeutinnen und Therapeuten, aus Angst, sich anzustecken. In den psychiatrischen Kliniken werden die Angebote zum Teil heruntergefahren, um das Ansteckungsrisiko zu vermindern. Das führt dazu, dass weniger Einzelgespräche, Gruppentherapie, Ergotherapie oder andere Maßnahmen stattfinden. Oder Therapeutinnen und Therapeuten fallen aus, weil sie erkrankt oder in Quarantäne sind. Aber es gibt auch Abhilfe: Zunehmend werden Patientinnen und Patienten auch telefonisch beraten oder Videosprechstunden eingerichtet.

Die Psychotherapie ist auf den Kontakt zu den Betroffenen angewiesen. Wie wirkt sich die Krise für niedergelassene Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten aus?

Für die ambulante Psychotherapie wurden die Bestimmungen geändert: Bis auf Weiteres ist es möglich, die psychotherapeutischen Sprechstunden, auch die „Schnupperstunden“ zum Kennenlernen vor der eigentlichen Psychotherapie, per Video durchzuführen. Aber es ist grundsätzlich nach wie vor möglich, sich auch persönlich zu treffen. Selbstverständlich müssen dann der Sicherheitsabstand und die Hygieneregeln eingehalten werden. Ein persönliches Treffen ist meines Erachtens vor allem wichtig, wenn man sich zum ersten Mal sieht. Denn die Stellung einer Diagnose und einer Indikation für die Psychotherapie per Telefon oder Video ist nur unter großen Schwierigkeiten möglich.

Schon vor der Krise stieg die Anzahl an digitalen psychotherapeutischen Angeboten. Wie bewerten Sie die Angebote?

Man muss unterscheiden zwischen einer Videosprechstunde mit „echten“ Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten und einer Internettherapie, bei der die Betroffenen Ratschläge von einem speziell entwickelten Computerprogramm bekommen, Materialien durcharbeiten und „Therapie-Hausaufgaben“ machen. Hier haben sie nur minimalen Kontakt mit echten Therapeutinnen und Therapeuten. Aus Untersuchungen weiß man, dass diese Ansätze auch wirksam sind, aber nicht ganz so gut wie Therapien von Angesicht zu Angesicht.

Haben Sie einen Rat für Angehörige von Betroffenen in der Krise?

Wichtig ist, dass die Angehörigen und Freundinnen und Freunde jetzt durch Gespräche, auch über die sozialen Medien, noch mehr als bisher Kontakt mit ihren erkrankten Mitmenschen aufrechterhalten, um ihnen zu zeigen, dass sie jemand für sie da ist.
Sie forschen und arbeiten seit Jahren zu stress-assoziierten Erkrankungen. Erleben wir gerade alle eine „gesellschaftliche Angststörung“?
Das sehe ich nicht. Menschen mit einer Angststörung, z. B. einer Panikstörung, fürchten sich vor eigentlich risikoarmen Dingen wie Fahrstühlen, Reisen in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Menschenansammlungen. Sie haben nicht unbedingt mehr Angst vor realen Gefahren, z. B. sich mit Viren anzustecken. Allerdings gibt es Patientinnen und Patienten, die sich wegen einer Agoraphobie sehr stark isoliert haben. Sie gingen auch früher ungern unter Menschen, etwa aus der Befürchtung heraus, sie könnten in einem vollen Kaufhaus eine Panikattacke bekommen. Wer unter einer solchen Angsterkrankung leidet, hat schwerwiegende Symptome wie Herzrasen, Zittern, Schwitzen, Schwindel oder Luftnot. Die realen Ängste, die wir alle derzeit haben, führen allerdings nicht zu solchen Symptomen. Es sind eher große Sorgen, aber keine Panikattacken.

Welche Erkenntnisse aus Ihrer Forschung lassen sich auf die kollektive Situation übertragen?

Die Forschung zeigt, dass sich bei Ereignissen, die viele Menschen betreffen, wie Kriege, Flucht oder Erdbeben, sich prozentual weniger posttraumatische Belastungsstörungen entwickeln als bei Ereignissen, die nur Einzelpersonen erleben, wie Autounfälle oder Überfälle. Wenn Menschen wissen, dass sie nicht allein betroffen sind, hilft das in gewisser Weise, die Folgen besser zu verarbeiten. Wir wissen außerdem, dass wir vor neuen und unbeherrschbaren Gefahren zunächst mehr Angst haben als vor bekannten. Nehmen wir das Beispiel Autounfälle. Trotz des Risikos fahren wir, bis auf ein paar Ausnahmen, weiter auf der Autobahn. Einen ähnlichen Umgang werden wir langfristig mit dem Coronavirus entwickeln müssen. Wir werden lernen, ein kalkulierbares Risiko einzugehen. Denn wir wissen, dass Menschen daran sterben können, aber auch, wie wir uns bestmöglich schützen. Aktuell ist es deshalb wichtig, mit einem „gesunden Fatalismus“ in die Welt zu gehen. Das Virus ist ein Risiko, doch die Chance, es zu überleben, ist sehr gut. So wie wir uns beim Autofahren anschnallen und an die Geschwindigkeitsbegrenzungen halten, können wir bei Corona die Gefahr durch Hygiene und Abstandsregeln minimieren.

Wird es in den Zeiten nach Corona, auch wegen einer möglichen Wirtschaftskrise, zu einer allgemeinen Depression in der Bevölkerung kommen?

Das glaube ich nicht. Man weiß von früheren Ereignissen, dass Menschen sehr anpassungsfähig sind. Einige Wochen nach dem Höhepunkt der Krise wird das allgemeine Angstniveau wieder auf ein normales Level fallen. Viele Menschen werden auch gestärkt aus der Krise hervorgehen. Sie werden vielleicht sogar mehr Wertschätzung für ihre sozialen Kontakte entwickeln, die sie so lange vermisst hatten.

Wie viel Angst ist eigentlich gerade berechtigt? 

Es hilft zu wissen, dass wir ein „Vernunftgehirn“ und ein „Angstsystem“ haben. Beide arbeiten nicht unbedingt zusammen. Das Vernunftgehirn kann Fakten verstehen, z. B. wie viele Menschen eben nicht gestorben sind. Das Angstsystem kann das nicht. In einer Krise schalten wir in den Überlebensmodus und primär ins Angstsystem. Das kann dazu führen, dass wir uns unvernünftig verhalten. Das ist ein entwicklungsgeschichtlich sehr altes und sehr einfaches System. Deswegen ist es normal, dass wir mehr Angst haben, als es vernünftig erscheint. Natürlich sind Sorgen berechtigt, genauso wie die Angst der Menschen, die als Risikogruppe gelten. Dass viele Menschen derzeit aber eher zu viel Angst haben, sieht man z. B. an Hamsterkäufen und teilweise steigender Aggressivität. Etwa vier Wochen nach dem Höhepunkt gibt sich das in der Regel. Meiner Einschätzung nach wird sich in einigen Wochen die allgemeine Angstreaktion normalisieren, denn wir Menschen sind sehr anpassungsfähig.

Wie können wir unsere eigene Angst beeinflussen? Haben Sie ein paar „Hygieneregeln“ für unsere Psyche?

Es gibt leider nicht den heißen Tipp. Unser Vernunftgehirn hat in den meisten Fällen die Lage verstanden. Unser Angstgehirn kommt da häufig noch nicht mit und drängt uns die Furchtgedanken immer wieder auf. Jede und jeder sollte daher versuchen, die intuitive Reaktion mit den tatsächlichen Fakten abzugleichen. Dazu kann man sich in den Medien erkundigen, was gefährlich ist und was nicht. In Gesprächen mit Angehörigen, Freundinnen und Freunden sowie Kolleginnen und Kollegen sollten wir uns gegenseitig sanft auf den Boden der Tatsachen zurückbringen. Außerdem sollten wir nachsichtig mit uns selbst sein. Es hilft, sich daran zu erinnern, wie man in früheren Situationen Krisen bewältigt hat und auch das Mantra „Das wird vorbei gehen“. Und selbstverständlich hilft auch Humor. Ich beobachte die vielen Coronawitze. Das ist ein Hinweis darauf, wie groß die Angst ist. Humor hilft dabei, das Angstgehirn zu bändigen. Das lässt sich sogar biochemisch zeigen: Humor schüttet Endorphine im Kopf aus, im sogenannten Belohnungssystem, dem Gegenspieler des Angstsystems. Zurzeit können wir das Angstsystem nicht ausschalten, aber wir können das Belohnungssystem fördern. 

Hat sich Ihre Grundeinschätzung der Lage über die letzten Wochen verändert?

Grundsätzlich nein. Unsere Erkenntnisse über die Angst sind gut validiert und lassen sich auf die aktuelle Situation anwenden. Ich hatte zwar erwartet, das eine allgemeine Angst entstehen würde. Das Ausmaß hat mich dann doch überrascht. Die massiven Einschränkungen in unserem Alltag tragen sicherlich maßgeblich dazu bei. Die Maßnahmen müssen natürlich sein, aber sie machen jeder und jedem Einzelnen die Dramatik der Situation jeden Tag klar. Das fordert das Angstgehirn heraus.

Wie gehen Sie ganz persönlich mit dem Ausnahmezustand um?

Ich versuche, der Situation mit einer angemessen Zuversicht zu begegnen. Auch wenn ich aufgrund meines Alters ein erhöhtes Risiko habe, schätze ich die Gefahr als äußerst gering ein, dass ich schwer krank werden oder sterben könnte. Zudem versuche ich mit Familienmitgliedern und Freundinnen und Freunden über die sozialen Medien lebhafte Kontakte aufrechtzuerhalten. Und in meinem Home-Office kommt auch nie Langeweile auf.

Herr Bandelow, wir danken Ihnen sehr für das Gespräch!

Prof. Dr. Borwin Bandelow ist Psychiater, Psychologe und Psychotherapeut und Experte für Angsterkrankungen. Er hat eine Professur an der Universität Göttingen, ist Ehrenvorsitzender der Gesellschaft für Angstforschung (GAF) und Autor mehrerer Bestseller zu psychologischen Themen.