„Tabus haben immer eine Funktion, die es zunächst zu verstehen gilt“

Wie können sich Betriebe dem sensiblen Thema Psyche nähern?

Die Gestaltung der Arbeitsbedingungen wird in vielen Betrieben noch nicht als relevanter Faktor für die psychische Gesundheit erkannt. Die Hemmschwelle, sich zu „outen“, ist hoch, die Rückkehr an den Arbeitsplatz nach der Genesung schwierig. Doch wie können Betriebe sich diesem sensiblen Thema nähern? Wir haben zwei gefragt, die sich mit nachhaltigen Veränderungsprozessen in Organisationen auskennen und bei heiklen Themen damit erfolgreich sind. Ein Interview mit Dr. Annette Gebauer, Geschäftsführerin der ICL GmbH und Stefan Günther, Diplom-Psychologe, Management- und Organisationsberater.

Sie haben viel Erfahrung damit, Unternehmen dabei zu beraten, wie sie nachhaltige Veränderungen in der Unternehmenskultur anstoßen können. In welchen Situationen holen sich Unternehmen Hilfe bei Ihnen?

SG: Der Ruf nach einer anderen Unternehmenskultur wird meistens dann laut, wenn Veränderungsbemühungen nicht wirken. Man merkt, dass da tief verwurzelte, oft unbewusste und gut eingespielte Muster einer Organisation am Werk sind, die man nicht zu fassen kriegt.

AG: Das liegt daran, dass man sich für diese Muster nie entschieden hat. Vielmehr entstehen kulturelle Muster in einer Ausgleichsbewegung: Für widersprüchliche Interessen, Mehrdeutigkeiten, Unerwartetes gibt es keine formale Lösung und so erfindet man spontan eine Umgangsform. Wird diese Lösung wiederholt, entsteht ein kulturelles Muster. So können sich im Miteinander auch bestimmte kollektive Muster im Umgang mit psychischen Belastungen einspielen. Das Thema kann zum Beispiel tabuisiert werden oder aber auch zum Dauerbrenner werden, sodass andere Themen kaum noch eine Chance haben.

SG: Kultur lässt sich nicht direkt beeinflussen, anweisen oder durch Marketingmaßnahmen nachhaltig in Bewegung bringen. Das Geheimnis besteht aus unserer Sicht darin, einen kollektiven Lernprozess zu initiieren, der neben der Verantwortung des Einzelnen auch die Arbeit an den Rahmenbedingungen in  den Blick nimmt, und diesen über lange Strecken und mit sichtbaren Erfolgen am Leben zu halten. In gewisser Weise unterstützen wir die Organisationen dabei zu lernen, sich selbst zu beobachten. Dabei helfen Fragen wie: Was wollen wir abbauen oder nicht mehr zulassen? Was wollen wir gemeinsam erreichen? Was muss getan werden, damit sich das Neue etabliert? Unserer Erfahrung nach sind Veränderungen an den Bedingungen und kollektiven Verhaltensmustern häufig aussichtsreicher als individuelles Training, eine ausgewogene Kombination ist oft der Königsweg.

Haben Sie ein Beispiel?

AG: Eine große Produktionseinheit in der chemischen Industrie, mit der wir zum Thema Prozess- und Arbeitssicherheit gearbeitet haben, hat sich in allen wichtigen Sicherheitskennzahlen verbessert und auf diesem sehr hohen Niveau stabilisiert – mittlerweile für mehrere Jahre und aus sich selbst heraus. Aber auch nach Jahren des stabilen Erfolges drohen immer wieder Rückfälle bei nachlassender Aufmerksamkeit oder dem Wechsel von Schlüsselpersonen.
 

Was ist Ihrer Erfahrung nach der Motor gelungener Veränderungsprozesse?

SG: Eine kritische Masse von Willigen über alle Ebenen hinweg, vor allem in der Führung des Unternehmens, die sich auch selbst zum Gegenstand des Lernens macht, die Bereitschaft, sich auf eine Veränderungsstrategie zu einigen und über einen langen Zeitraum kontinuierlich Ressourcen und Energie zu investieren.

Welche Bereiche und Funktionen müssen auf jeden Fall mitziehen?

SG: Letztendlich alle, jedoch geht es ohne eine Koalition von Führungskräften, den am Thema beteiligten Experten und dem Betriebsrat nicht deutlich voran. Das ist allerdings Teil der Zusammenarbeit mit dem Unternehmen und meistens nicht schon zu Beginn anzutreffen.

Annette, Du hast ein Buch mit dem Titel „Organisieren kollektiver Achtsamkeit“ geschrieben. Was steckt dahinter- sitzt am Ende die ganze Belegschaft gemeinsam im Achtsamkeitstraining?

AG: Mit dem Organisieren kollektiver Achtsamkeit meinen wir, dass Organisationen beginnen, sich selbst im Zusammenspiel mit ihrer Außenwelt aufmerksamer zu beobachten. Wir nutzen den Begriff der Achtsamkeit, weil diese Beobachtung eines Unterschieds zwischen ‚Innen‘ und ‚Außen‘, den gängigen Definitionen von Achtsamkeit entspricht. Individuelle Achtsamkeit und auch psychische Gesundheit verstehen wir dabei als wichtige Ressourcen für eine Organisation, die sie auf unterschiedliche Weise beeinflussen kann. Unserer Erfahrung nach sind Veränderungen an den Bedingungen und kollektiven Verhaltensmustern häufig aussichtsreicher als individuelles Training – letztendlich aber geht es um eine ausgewogene Kombination.

Ließe sich Ihr Ansatz auch auf eine „Tabukultur“ übertragen, wie sie in vielen Betrieben beim Thema psychische Gesundheit gelebt wird?

SG: Der Grund für eine Tabuisierung des Themas psychische Gesundheit entsteht im Spannungsfeld sehr unterschiedlicher und manchmal auch widersprüchlicher Interessen zwischen bereits erkrankten oder von Stress betroffenen Mitarbeitern, Führungskräften, Kollegen und der Organisation, die neben der Fürsorge immer auch das eigene wirtschaftliche Überleben im Fokus haben muss. In diesem Spannungsfeld oder Dilemma entsteht leicht ein Nährboden für Unsicherheiten, Vorurteile, Ängste und diskriminierendes Verhalten.

AG: Tabus haben immer eine Funktion, die es zunächst zu verstehen gilt: Wofür sind sie eine Lösung? Wir beobachten beim Thema psychische Gesundheit oft Unsicherheiten bei Führungskräften. Anders als eine Krankheit, die über definierte Symptome bestimmt werden kann, ist psychische Gesundheit schwer fassbar und hochgradig interpretationsbedürftig: Was bedeutet psychische Gesundheit und wie fördert man sie? Wir Führungskräfte sind doch keine Psychologen und Psychologinnen! Und wer bestimmt am Ende, ob das Ziel erreicht wurde? Ein erster Schritt besteht darin, gemeinsam zu definieren, was mit psychischer Gesundheit gemeint ist, welche Aspekte überhaupt durch Organisation und Führung beeinflussbar sind.

Kultur lässt sich nicht direkt beeinflussen, anweisen oder durch Marketingmaßnahmen nachhaltig in Bewegung bringen.

Stephan Günther

Gelingt Kulturveränderung immer nur mit dem großen Prozess oder kann auch jeder einzelne Beschäftigte etwas tun?

SG: Es braucht aus unserer Sicht immer beides: einen gemeinsamen Rahmen und das Engagement vieler Einzelner oder Pioniere. Gerade wenn es um das Unterbinden von diskriminierendem Verhalten und belastenden Arbeitsbedingungen geht, aber auch bei der Neugestaltung einer positiven Arbeitsatmosphäre: indem man sich beispielsweise beteiligt, gegenseitig unterstützt, fördert und ermutigt.

Woran merken Organisationen und einzelne Mitarbeitende, dass die Kultur im Wandel ist?

AG: Kultur ist ein großer Begriff, entsprechend groß sind bei Entwicklungsprozessen auch schnell die Enttäuschungen, dass im Großen und Ganzen immer noch alles beim Alten ist. Die Kunst besteht darin, gleich zu Beginn immer wieder die kleinen Unterschiede ans Licht zu holen.  Es geht darum, kleine Variationen aufzugreifen, um sie auszuwerten und Schritt für Schritt zu stabilisieren.

SG: Es ist zu Beginn wichtig, sich auf Merkmale von Erfolg zu einigen und von einer reinen Fokussierung auf Ergebniskennzahlen wegzukommen. Diese sogenannten lagging indicators wie Fehlzeiten und Beschwerderaten tauchen meist sehr spät als Folge von vorgelagerten Problemen auf. Besser ist es, auf sogenannte Frühindikatoren (leading indicators) zu schauen, wie zum Beispiel die Beteiligung von Mitarbeitenden an Verbesserungsinitiativen, die einem sehr früh Hinweise darauf geben, ob man auf dem Weg zu einer positiven Veränderung ist.

Auf welche „Nebenwirkungen“ müssen sich Unternehmen bei einem Kulturwandel gefasst machen?

SG: Es treten mit der erfolgreichen Bearbeitung bestehender Probleme automatisch unvorhersehbare neue auf. Ein sehr erfolgreiches Unternehmen hat beispielsweise über mehrere Jahre sehr viel für die Zufriedenheit der Mitarbeitenden getan. Nach einigen Jahren waren die Ansprüche der Belegschaft so gewachsen, dass das Personalwesen Mühe hatte, auf ein akzeptables Niveau zurückzukehren. Es bleibt die Aufgabe, diese immer wieder neuen Herausforderungen zu erkennen und besser zu werden. Eine Organisation ohne Herausforderungen und Spannungen ist nicht möglich.