„Es geht nicht darum, in die Seele der Mitarbeitenden zu schauen“

Ein Gespräch mit Dr. Birner, der als Psychologe bei Siemens die Destigmatisierung psychischer Gesundheit voranbringt.

Offen über psychische Belastungen sprechen, geht nicht? Geht doch, wenn man ein paar Grundregeln beachtet. Ein Gespräch mit Dr. Ulrich Birner, der als Psychologe bei Siemens die Destigmatisierung psychischer Gesundheit voranbringt.

Kann man in der Arbeitswelt offen über psychische Belastungen oder Erkrankungen sprechen, Herr Dr. Birner?

UB: In allen Unternehmen spiegeln sich gesellschaftliche Entwicklungen. Mein Eindruck ist, dass es schon eine zunehmende Offenheit im Umgang mit psychologischen Themen bei der Arbeit gibt. Die versuchen wir bei Siemens weiter voranzubringen. Die Burn-out-Debatte hat in gewisser Weise die Tür geöffnet, um über das Thema psychische Befindlichkeiten offener reden zu können. Ich sehe zwar noch immer ein Tabu oder sagen wir, zumindest eine Scheu. Aber ich beobachte auch, dass dieses Tabu wegschmilzt und zunehmend aufbricht.

Ich beobachte, dass das Tabu wegschmilzt und zunehmend aufbricht.

Dr. Ulrich Birner

Wie einfach oder schwierig ist es, psychische Belastungen bei Mitarbeitenden anzusprechen?

UB: Es ist nicht besonders schwierig, weil es nicht darum geht, in die Seele der Mitarbeitenden zu schauen. Es geht darum, gut zu beobachten und Veränderungen wahrzunehmen. Und wirklich nur über diese Veränderungen zu sprechen, nicht über mögliche Spekulationen oder Deutungen. Einfach zu sagen ‚Mir fällt auf, dass du häufiger zu spät kommst. Dass du Sachen nicht mehr so pünktlich ablieferst wie früher.‘ Wenn mein Gegenüber sich öffnen will, dann in so einer Situation. Wenn man jemanden mit Deutungen konfrontiert, fällt das viel schwerer.

Sie arbeiten seit vielen Jahren als Psychologe bei Siemens. Wie hat sich das Thema psychische Gesundheit dieser Zeit entwickelt?

UB: Ein sehr wichtiger Katalysator für die Entwicklung war das Forschungsprojekt MARATONE – Mental Health Training through Research Network in Europe – , an dem wir zwischen 2014 und 2017 teilgenommen haben. Das war kurz nachdem ich die heutige Funktion Siemens übernahm. Wir haben über dieses Projekt nicht nur Ressourcen bekommen, sondern auch wirklich sehr gute fachliche Unterstützung. Dadurch konnten wir Projekte auf die Beine stellen, für die es in anderen Unternehmen vielleicht nicht so günstige Rahmenbedingungen gibt – zum Beispiel das gamifizierte eLearning-Tool für Führungskräfte.

Wie kam es dazu?

UB: Viele Führungskräfte haben uns in Befragungen gesagt, dass die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeitenden für sie ein wichtiges Thema ist, über das sie gern mehr wissen würden. Aber sie haben nicht die Zeit, sich tagelang in Workshops oder Seminare zu setzen. Also haben sie uns gebeten, ein Format zu entwickeln, mit dem sie möglichst selbstgesteuert und sehr fokussiert Wissen erwerben können. Wir haben dann festgestellt, dass klassische webbasierte Trainings ein bisschen an Reiz verloren haben. Als neue Möglichkeit haben wir das gamifizierte Lernen entdeckt. Jetzt können Führungskräfte in ein bis zwei Stunden in einem geschützten Raum neue Verhaltensweisen ausprobieren. Die Teilnehmenden sehen im Spiel die Auswirkungen ihres Verhaltens – ob sich eine Person verschließt oder ob sie sich öffnet. Zu jeder Dialogsequenz gibt es ein fachliches Feedback.

Die Teilnehmenden sehen im Spiel die Auswirkungen ihres Verhaltens – ob sich eine Person verschließt oder ob sie sich öffnet.

Dr. Ulrich Birner

Psyche – hat doch jeder

Wie können wir mit psychischer Gesundheit selbstverständlicher umgehen? Darüber sprachen wir in unserer psyGA-Aktionswoche 2020 mit Prof. Dr. Georg Schomerus, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Leipzig und Dr. Ulrich Birner, Leiter des Fachreferat „Corporate Psychosocial Health and Well-being“ bei der Siemens AG

Das Video der Veranstaltung finden Sie hier

Was sind die Rückmeldungen der Führungskräfte, die das eLearning-Angebot durchlaufen haben? Wie leicht oder schwer fällt es ihnen, das Gelernte anzuwenden?

UB: Wir haben das gamifizierte eLearning-Angebot evaluiert und stellen fest, dass sich das Wissen dadurch verbessert, dass die Einstellung gegenüber dem Thema sich verändert. Das ist eine wesentliche Grundlage, um mit Mitarbeitenden ins Gespräch zu kommen. Und dann gibt es natürlich Erfolgserlebnisse, die motivieren. Diese Aha-Momente, wenn Führungskräfte im Arbeitsalltag erfahren, „Ach, so geht das also, Verhaltensänderungen offen anzusprechen“.

Der Kampagnen-Baukasten bei Siemens

Das gamifizierte eLearning-Tool ist nicht alles. Damit Betroffene offen über psychische Belastungen reden können, entwickelte Siemens eine dreistufige Kampagne. Die erste Phase will ein Bewusstsein für psychische Gesundheit in der Arbeitswelt schaffen. In Phase zwei sollen Beschäftigte ihre Einstellung gegenüber dem Thema psychische Gesundheit überprüfen. Die abschließende dritte Phase zielt auf eine Verhaltensänderung. In der Kommunikation werden vor allem Poster eingesetzt. Zum Baukasten gehören auch Video-Interviews, in denen Mitarbeitende und Führungskräfte von psychischen Belastungen und Erkrankungen berichten.

Wie würden Sie generell die Rolle von Führungskräften für die psychische Gesundheit beschreiben?

UB: Für das Wohl der Mitarbeitenden Verantwortung zu tragen, ist eine ganz wichtige Führungsaufgabe. Führungskräfte sehen auch Verhaltens- oder Leistungsänderungen schneller als andere. Trotzdem sollten sie auf gar keinen Fall in einer freundschaftlichen oder therapeutischen Rolle agieren. Aber wer Veränderungen sieht, sollte sie ansprechen. Manchmal helfen zur Entlastung schon einfache organisatorische Maßnahmen. Zum Beispiel, wenn ein Familienmitglied erkrankt ist und die Person zeitlich unter Druck steht. Wenn die eigenen Möglichkeiten nicht ausreichen, weiß die Führungskraft, wo sie sich im Unternehmen fachliche Unterstützung holen kann.

Wo können Unternehmen ansetzen, wenn sie die psychische Gesundheit von ihrem Stigma befreien wollen?

UB: Dahinter steckt immer ein Mangel an Wissen. Wer psychische Belastungen oder Erkrankungen stigmatisiert, hat häufig negative Einstellungen den Betroffenen oder dem Thema gegenüber. Die logische Konsequenz ist dann die fehlende Unterstützung. Ich glaube, dass allein schon durch Wissen eine ganze Menge an Öffnung stattfinden kann. Wer das Gespräch mit belasteten oder erkrankten Mitarbeitenden sucht, versteht viel besser, was in ihnen vorgeht und welche Unterstützung sie erwarten. Betroffene können das viel unmittelbarer transportieren als Expertinnen oder Experten.

Sollten Mitarbeitende psychische Probleme gegenüber Führungskräften offen ansprechen?

UB: Im Moment stellt sich für sie häufig noch die Frage der Konsequenzen: Was kann ich erwarten, wenn ich meiner Führungskraft oder meinem Arbeitgeber mitteile, dass ich in der aktuellen Situation nicht so leistungsfähig bin? Kann ich ihnen vertrauen und haben sie dafür Verständnis? Werden sie mich unterstützen und mein Verhalten als normale Schwankung akzeptieren? Oder ergeben sich daraus für mich irgendwelche kurz-, mittel- oder langfristigen Nachteile? Ob Mitarbeitende mit Belastungen offen umgehen, ist eine Frage des Vertrauens. Und Vertrauen ist ein Thema der Unternehmenskultur.

Woran würden wir merken, dass die Psyche kein Tabuthema mehr ist?

UB: Es gibt diese überraschende Zahl, dass ein Viertel der Bevölkerung einmal im Laufe ihres Lebens psychisch erkrankt. Wenn man überlegt, wie viele Menschen, man in seinem Freundes- oder Bekanntenkreis kennt, die eine psychische Erkrankung haben oder hatten, kommt man schon auf einige. Trotzdem bin ich sicher, dass es hier noch eine hohe Dunkelziffer gibt. Ein Merkmal wäre, dass jeder, der so etwas erlebt hat, auch offen darüber spricht. Ein weiteres wäre, dass es normal wird, psychische Belastungsgrenzen aufzuzeigen. Dass wir eine höhere Toleranz für die Verschiedenartigkeit von Menschen haben.

Als Barriere für Offenheit gibt es noch immer einen Normalitätsbegriff, der eigentlich gar nicht so genau definiert ist.

Dr. Ulrich Birner

Was hindert uns daran?

UB: Als Barriere für Offenheit gibt es noch immer einen Normalitätsbegriff, der eigentlich gar nicht so genau definiert ist, und nur ein statistisches Mittelmaß darstellt. Gleichzeitig bemühen wir uns heute allein schon durch Kleidung, durch Haarschnitte und alle möglichen Dinge unserer Lebensführung, Individualität zur Schau zu stellen. Jeder weicht ohnehin von der Normalität ab. Wenn wir diesen Normalitätsbegriff knacken und erkennen würden, dass die eigentliche Normalität die Diversität ist, dann wären wir einen großen Schritt weiter.

Über Dr. Ulrich Birner

Dr. Ulrich Birner leitet seit 2011 das Fachreferat „Corporate Psychosocial Health and Well-being“. Er promovierte an der Universität München, ist ausgebildeter Verhaltenstherapeut und systematischer Coach. Häufig hindere Mitarbeitende das Stigma daran, psychologische Beratungsangebote in Anspruch zu nehmen. Das zu ändern, ist seine Aufgabe bei Siemens. Das gamifizierte eLearning-Tool steht auch anderen Organisationen zur Verfügung. Wenn Sie das Tool nutzen möchten, nehmen Sie Kontakt zu uns auf.