Erfahrungen aus der Praxis
Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz: Wie knacken wir das Tabu? Erfahrungen aus der Praxis.


Frederik Nelting, Gezeiten Haus Gruppe
Frederik Nelting ist Prokurist und Mitglied der Geschäftsleitung der Gezeiten Haus Akademie. Zusätzlich arbeitet er als Improvisationstrainer mit Patienten und Mitarbeitern.
Die Ausfalldaten bei psychischen Erkrankungen sagen alles! Es bedarf eines Umdenkens in der Unternehmenskultur. Und es lohnt sich. Mitarbeitergesundheit und -zufriedenheit werden treibende Faktoren in der Arbeitswelt 4.0. Unser beruflicher und privater Alltag wird immer schnelllebiger, komplexer und unvorhersehbarer. Gleichzeitig steigen die Erwartungen an Kreativität, Veränderungs- und Kooperationsbereitschaft. In dieser neuen (Arbeits-) Welt brauchen wir Menschen, die mit Herausforderungen sowie Veränderungen souverän umgehen können, ohne sich selber und andere zu überlasten. Das geht nur mit stressresilienten Mitarbeitern. Sie müssen darauf vertrauen können, sich dem Thema öffnen zu können. Daher muss die Förderung der psychischen Gesundheit von der Spitze geschehen. Es darf hierbei nicht verachtet werden, dass im alltäglichen Leben psychische Belastungen oft mit „verrückt sein“ verwechselt werden. Wie oft hört man vom gegenüber, dass „man doch keinen an der Klatsche hätte“, wenn ein therapeutisches Gespräch empfohlen wird. Solange ein derart negatives Bild in der Mitarbeiterschaft/Gesellschaft verankert ist, wird die Enttabuisierung nicht gelingen und eine frühe Intervention vor einer Erkrankung verhindern. Ein wertschätzender und normalisierter Umgang mit dem Thema psychische Belastungen, ähnlich wie bei einem Beinbruch, muss durch Aufklärung und Sensibilisierung erreicht werden. Gerade Gespräche mit Betroffenen helfen die Angst vor dem Thema zu nehmen und ein offeneres Verhältnis zur psychischen Gesundheit zu entwickeln. In den Veranstaltungen, die wir z.B. gemeinsam mit Sven Hannawald machen, erleben wir, dass weitaus mehr Menschen sich dem Thema öffnen, als wenn „nur“ ein Experte vor ihnen spricht. Auch mit bildgebenden Verfahren wie der HRV-Messung gelingt es die Bereitschaft zu präventiven Maßnahmen zu steigern. Viele merken nicht, dass sie schon lange in der Überbelastung sind. Wenn sie es aber schwarz auf weiß sehen, ändert sich ihre Haltung.

Birgit Oehmcke, Aktionsbündnis Seelische Gesundheit
Birgit Oehmcke arbeitet als Business-Coach, Kommunikationstrainerin sowie als Expertin für Stressbewältigung und Resilienz. Außerdem ist sie Projektkoordinatorin des Aktionsbündnisses für seelische Gesundheit.
Das Aktionsbündnis Seelische Gesundheit bietet seit 2011 Seminare zum Umgang mit psychischen Belastungen am Arbeitsplatz an. Führungskräfte stehen hier täglich in einer ganz besonderen Verantwortung: Ihr persönliches Führungsverhalten hat entscheidenden Einfluss auf die seelische Gesundheit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Vielen Chefinnen und Chefs ist dieser Zusammenhang aber nicht bewusst, oder sie sind mit der Thematik schlicht überfordert. Mit unserem integrativen Ansatz wollen wir bestehende Ängste und Vorurteile im betrieblichen Umfeld durch direkten Kontakt mit Betroffenen abbauen. Aus diesem Grund haben wir immer einen in einer psychischen Erkrankung erfahrenen Co-Referenten dabei, der aus seinem eigenen Erleben berichtet. Die Teilnehmer bekommen so oft erstmals einen direkten emotionalen Zugang zum Thema und können sich selbst und ihr eigenes Gesundheitsverhalten besser reflektieren. Gesunde Führung kann nur funktionieren, wenn in einem Unternehmen auf allen Führungsebenen das Thema psychische Gesundheit zur Chefsache gemacht und eine offene Kommunikation ermöglicht wird. Das funktioniert nach meiner Erfahrung am besten durch den persönlichen Kontakt und Austausch mit Betroffenen in einem geschützten Rahmen.

Dr. Susanne Fiege, Deutsche DepressionsLiga e.V
Susanne Fiege ist Trainerin, Speakerin und Coach für Achtsamkeit und Kommunikation. Zudem ist sie Vorständin der Deutschen Depressionsliga.
Um das Tabu zu durchbrechen braucht es vor allem Achtsamkeit und das Gewahr werden über die aktuelle Situation, ohne sie zu beschönigen oder zu verschlimmern.
Genau hinsehen
Wenn wir, jeder einzelne von uns sich in die Eigenverantwortung begibt und lernt wieder genau(er) hinzusehen, statt weg zu schauen.
Einander und uns selbst tiefer zuhören
Kommunikation ist lernbar und findet auf mehreren Ebenen gleichzeitig statt. Und Kommunikation hat mit dem Weitergeben und dem Aufnehmen von Informationen zu tun. Wir müssen lernen mit dem Herzen zu lauschen und aus dem Herzen zu sprechen und wir dürfen üben noch tiefer zu gehen, so tief, bis wir die Verbindung zueinander wieder wahrnehmen können.
Unsere Erwartungen und unser Erleben erkennen, benennen und anderen mitteilen
Ich bin davon überzeugt, dass ein wesentlicher Schritt zur Stressvermeidung und schließlich zur Auflösung des Tabus dadurch erreicht werden kann, dass wir uns unserer Erwartungen – in jedem Moment – bewusstwerden und lernen sie mit dem Erleben der aktuellen Realität abzugleichen. Schließlich müssen dabei aufkommende Gefühle benannt und mitgeteilt werden können.
Mensch-Sein und Leistung und Erfolg heilsam definieren
Leistung und Erfolg werden derzeit im Funktionieren von Körper und Verstand gemessen. Die Gefühle bleiben bisher in der Regel außen vor. Um als Mensch heil zu werden, also ganz gesund, braucht es eine neue Definition, die all unsere menschlichen Gefühle mit einbezieht.