Dr. Donya Gilan über Risikowahrnehmung und bewusste Risikokommunikation

„Wir müssen die Risikomündigkeit der Menschen stärken“

Frau Dr. Gilan, erst die Corona-Pandemie, jetzt die extremen Hochwasser in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Zwei Jahrhundertereignisse folgen kurz aufeinander. Hätte man vor wenigen Jahren vor der Wahrscheinlichkeit dieser Szenarien gewarnt, wie hätte der Großteil der Bevölkerung reagiert?

Das kommt darauf an, auf welche Weise gewarnt worden wäre. Grundsätzlich ist es sinnvoll, die Bevölkerung möglichst frühzeitig auf solche Ereignisse vorzubereiten. Das heißt: Rechtzeitig warnen, damit die Menschen entsprechende Vorkehrungen treffen können. Gleichzeitig ist es immer schwierig, auf eine Gefahr hinzuweisen, wenn noch kein unmittelbarer Handlungsdruck besteht. Denn Menschen ändern ihr Verhalten mit höherer Wahrscheinlichkeit erst dann, je konkreter eine Gefahr ist und je stärker diese sie persönlich betrifft. Die Risikowahrnehmung zu stärken und dabei die persönliche Gefährdung zu betonen, ist daher von besonderer Bedeutung. In der Pandemie ist es zum Beispiel sinnvoll, darauf hinzuweisen, dass das Coronavirus auch bei jüngeren Menschen lebensgefährlich verlaufen kann und Angehörige sterben können.

Wie kann es gelingen zu warnen, ohne Panik auszulösen? Wie warnt man richtig?

Es ist durchaus produktiv und sogar wichtig, ein gewisses Maß an Angst hervorzurufen und die konkreten negativen wie auch positiven Folgen aufzuzeigen, die ein Verhalten hat. Die Art der Kommunikation ist dabei aber entscheidend: Warnungen sollten zum einen so informativ wie möglich sein. Das heißt, es sollten ausreichende und für die Sache nützliche Informationen geliefert werden. Zum Beispiel: Was genau wird voraussichtlich wann und wo passieren? Was kann ich in Fall X tun? Welche Vorkehrungen kann ich treffen? Bleibt es unkonkret, könnte die Bevölkerung das Risiko unterschätzen – nach dem Motto „Wird schon nicht so schlimm werden“. Das gilt insbesondere, wenn kein fachliches Hintergrundwissen vorhanden ist. So hat sich etwa eine allgemeine Risikowahrnehmung wie „Rauchen schadet der Gesundheit“ als wenig wirksam erwiesen, um das eigene Verhalten zu ändern. Grund ist die Diskrepanz zwischen den wissenschaftlich belegten Risiken und der eigenen Risikobeurteilung. Ein weiterer wichtiger Punkt ist: Warnungen müssen glaubwürdig sein, was maßgeblich von der Quelle der Informationen abhängt. Sind es zum Beispiel Wissenschaftler*innen oder Privatpersonen, die vor einem Ereignis warnen?

Mit anderen Worten: rechtzeitig, konkret und glaubwürdig warnen?

Richtig. Alle drei genannten Faktoren – Rechtzeitigkeit, Informativität und Glaubwürdigkeit – sind gleichermaßen bedeutsam. Aber mehr noch: Wichtig ist, dass Menschen vermittelt wird, dass sie auf die Situation Einfluss nehmen können und ihr nicht hilflos ausgeliefert sind. Andernfalls kann es zu sogenanntem Vermeidungsverhalten kommen, wenn die erlebte Hilflosigkeit und damit die Angst zu stark wird. Gerade bei Naturkatastrophen ist das oft der Fall. Darüber hinaus sollten die Vorgaben zwar klar, aber nicht überregulierend im Sinne konkreter Verhaltensverbote oder -aufforderungen gestaltet sein. Denn wenn sich Menschen in ihrer Freiheit, also ihrem Bedürfnis nach Kontrolle und Orientierung, eingeschränkt sehen, droht Reaktanz. Das meint Verhaltensweisen, die darauf zielen, reduzierte oder geraubte Freiheitsspielräume wiederzuerlangen und dabei dem gewünschten Verhalten widersprechen.

Das klingt nach einem ganz schönen Spagat

Ja, es ist ein anspruchsvoller Balanceakt gleichzeitig für eine Gefahr zu sensibilisieren und die Handlungskompetenz anzusprechen. Auch weil Menschen unterschiedlich sensibel auf Risikokommunikation reagieren. Empfinden es die Einen als beruhigend, konkrete Verhaltensregeln zu bekommen löst bei anderen schon die Andeutung von Regeln die angesprochene Reaktanz aus. Das stellt hohe Anforderungen an die Risikokommunikation. Deshalb sollte sie möglichst breit aufgestellt sein.

Welche Rolle spielen der Katastrophenschutz und die Politik?

Es ist absolut sinnvoll, den Katastrophenschutz für entsprechende Ereignisse stärker auszubauen. Auch das beeinflusst die Reaktionen der Bevölkerung stark, da dies ihrem Bedürfnis nach Kontrolle und Orientierung gerecht wird. Außerdem ist es sehr wichtig, dass die Politik den Menschen zeigt, dass sie handlungsfähig und -willig ist und richtig kommuniziert. Bleiben wir bei der Flutkatastrophe und der Corona-Pandemie: Diese sind laut der Forschung letztlich auf den Klimawandel zurückzuführen. Seit über 30 Jahren wird vor der Zunahme solcher Ereignisse gewarnt. Doch offenbar war die Art der Kommunikation unzureichend – vermutlich auch, weil die Klimakrise in der Allgemeinbevölkerung und Politik noch nicht gänzlich ernst genug genommen wird. Wie hier künftig besser kommuniziert werden kann, ist eine elementare Zukunftsfrage. Entscheidend ist eine Risikokultur, in der mögliche Katastrophen durchgespielt und mit der richtigen Risikokommunikation und dem Handeln der Politik bestenfalls verhindert werden.

Auf das Unvorstellbare folgt häufig der Reflex, schnelle Antworten zu finden und einen Schuldigen auszumachen. Welche Funktion erfüllt diese Suche?

Umwelteinwirkungen und -veränderungen sind für Menschen oft schwer greifbar. Dementsprechend lösen Naturkatastrophen häufig ein Gefühl von Kontrollverlust und Hilflosigkeit aus. Die Suche nach schnellen Antworten und Schuldigen gibt uns die vermeintliche Kontrolle und Orientierung zurück. Denn Menschen haben ein zentrales Grundbedürfnis: Wir wollen unser psychisches und körperliches Wohlbefinden aufrechterhalten. Gelingt uns das nicht, kommen unangenehme Gefühle wie Angst und Unsicherheit auf, die wir eigentlich vermeiden wollen. Andere Menschen zu beschuldigen, hilft uns, von diesen negativen Gefühlen abzulenken. Indem wir einem Ereignis eine klare Ursache zuschreiben, erleben wir es als kontrollierbarer und dadurch weniger angstauslösend. Mediale Berichterstattungen zum Beispiel, die den Fokus auf die Sensation legen wirken eher kontraproduktiv. Sie lösen starke Ängste aus, erhöhen die Aufmerksamkeit und zeigen gleichzeitig keine Handlungsmöglichkeiten auf. Rein alarmierende Risikokommunikation führt so zu zunehmender Verunsicherung und nicht dazu, dass sich die Fähigkeit ein Risiko einzuschätzen und zu bewerten verbessert.

Kann man sich überhaupt auf das Unvorstellbare vorbereiten?

Ein Stück weit schon, wir sprechen hier von Risikomündigkeit. Sie beschreibt die Fähigkeit, auf Basis persönlicher Werte und Vorlieben ein Risiko einschätzen zu können. Voraussetzung dafür ist, dass man den Sachverhalt überblickt, die Konsequenzen ersichtlich sind und man eine eigene Bewertung des Risikos vornehmen kann. Hierzu muss man sich intensiv mit den Hintergrundinformationen des betreffenden Risikos sowie den Handlungsalternativen auseinandersetzen. Das heißt auch, es braucht Expert*innen, die die relevanten Informationen auf verständliche Weise der Öffentlichkeit kommunizieren. Der Risikokommunikation kommt also eine entscheidende Bedeutung zu. Doch natürlich bleibt bei allem auch ein Rest Unsicherheit, denn Entscheidungen im Zusammenhang mit Risiken umfassen zu jeder Zeit eine Vielzahl unbekannter Faktoren. Hinzu kommt, dass Menschen die Tendenz haben, unwahrscheinliche Risiken zu überschätzen und wahrscheinliche Risiken zu unterschätzen. Auch darauf muss sich die Risikokommunikation einstellen.

Im vergangenen Jahr haben wir das Wort „Präventionsparadox“ gelernt. Es sagt im Kern: Weil aufgrund von Vorsorge ein erwartetes Ereignis verhindert werden konnte, ist der Grund der Maßnahme nicht mehr spürbar. Mit anderen Worten: Wie sehr die Vorsorge gewirkt hat und wie es ohne sie gewesen wäre, kann niemand mehr messen. Viele Menschen haben die Corona-Maßnahmen aufgrund dessen als übertrieben bezeichnet. Was bräuchte es aus Ihrer Sicht, um mit Prävention durchzudringen?

Das Präventionsparadox beschreibt das Phänomen, dass eine präventive Maßnahme der Bevölkerung viel Nutzen bringen kann, die oder der Einzelne aber wenig davon spürt. Dadurch geht psychologisch betrachtet der Anreiz verloren, sich selbst präventiv zu verhalten. Wichtig ist daher zum einen, den Menschen die möglichen Folgen der Verhaltensweisen „mit Prävention“ versus „ohne Prävention“ anhand von Wahrscheinlichkeiten und ähnlichem zu verdeutlichen. Die so ausgelöste Angst oder Betroffenheit erhöht die Bereitschaft, etwas dagegen zu tun. Zum anderen kann man Anreize schaffen, um Menschen von präventivem Verhalten zu überzeugen, etwa in Form von in Aussicht gestellten Belohnungen für die eigenen Bemühungen.

 

Vielen Dank für das Gespräch!

Dr. Donya Gilan ist Psychologin und leitet den Bereich „Resilienz & Gesellschaft“ beim Leibniz-Institut für Resilienzforschung (LIR) in Mainz.

Zum Weiterlesen:

Klimakrise und Corona: Erderwärmung begünstigt weitere Pandemien - energiezukunft Schellong, S., von Hirschhausen, E., Wieler, L. H., Wild, V., & Hartmann, S. Klimawandel – was sich jetzt ändern muss!

Krönert, T., Pfeifer, S., Sonntag, S., & Weber, T. (2020). Kombinierte Gefahrenlagen durch den Klimawandel.
https://www.ipcc.ch/

Renn, O. (2014a). Das Risikoparadox. Warum wir uns vor dem Falschen fürchten. Frankfurt am Main: Fischer.

Geschäftsstelle der Risikokommission Bundesamt für Strahlenschutz (2005). apug.de. 
http://www.apug.de/archiv/pdf/RiKo-Abschlussworkshop-Dokumentation.pdf, zugegriffen am 18.12.2015
Microsoft Word - Gerlach_2017_Risikomuendigkeit_bei_Naturrisiken_Dissertation.docx (uni-stuttgart.de)

Jungermann, H., Rohrmann, B. & Wiedemann, P. (1991). Risikokontroversen. Konzepte, Konflikte, Kommunikation. Berlin: Springer Verlag.