Die Idee

Für mehr Offenheit und Diversität

Dr. Ulrich Birner hat als Psychologe viele Jahre das Fachreferat für psychische Gesundheit im Siemens-Konzern verantwortet. Im Rahmen seiner Tätigkeit hat er ein preisgekröntes Programm entwickelt, das eine wichtige Grundlage für die psyGA-Destigma-Kampagne und -Toolbox darstellt. Zur Jahresmitte 2021 hat die Diplom-Psychologin Anna Borg seine Funktion als Head of Psychosocial Health and Wellbeing bei Siemens übernommen. Im Gespräch erläutern beide, worum es bei dem Programm geht, welche Erfolgsfaktoren es für die Umsetzung gibt und warum Unternehmen gut beraten sind, das Thema psychische Gesundheit auf die Agenda zu setzen.

Kann man in der Arbeitswelt heute offen über psychische Belastungen oder Erkrankungen sprechen, Herr Dr. Birner?

UB: In allen Unternehmen spiegeln sich gesellschaftliche Entwicklungen. Mein Eindruck ist, dass es heute eine zunehmende Öffnung im Umgang mit psychologischen Themen bei der Arbeit gibt. Die breite gesellschaftliche Diskussion der letzten Jahre – Stichwort Burn-out-Debatte – hat deutlich die Tür geöffnet, um über das Thema psychische Gesundheit und Krankheit unbefangener reden zu können. Ich sehe zwar noch immer eine Zurückhaltung und Unsicherheit, beobachte aber auch, dass diese Scheu wegschmilzt und zunehmend aufbricht. Siemens versucht, diesen Trend weiter voranzubringen.

Wo können Unternehmen ansetzen, wenn sie die psychische Gesundheit von Stigma befreien wollen, Frau Borg?

AB: Hinter Stigmatisierung steckt immer ein Mangel an Wissen und Erfahrung. Leider geht dies häufig mit einer negativen Einstellung den Betroffenen oder dem Thema gegenüber einher mit der Konsequenz der fehlenden Unterstützung. Allein durch Wissensvermittlung findet eine erste Öffnung statt. Wer ins Gespräch mit belasteten oder erkrankten KollegInnen oder Mitarbeitenden geht, beginnt zu verstehen, was in ihnen vorgeht und welche Unterstützung helfen kann. Betroffene können, das viel unmittelbarer transportieren als Expertinnen oder Experten. Solche GesprächspartnerInnen lassen sich übrigens auch im Familien- und Bekanntenkreis finden.

Herr Dr. Birner, Sie haben bei Siemens die Kampagne zur Sensibilisierung der Belegschaft für das Thema psychische Gesundheit angestoßen. Was hat Sie dazu bewogen das Thema so anzugehen?

UB: Ausgangspunkt war und ist die Tatsache, dass jeder Dritte, bis Vierte mindestens einmal in seinem Leben von einer psychischen Erkrankung betroffen ist. Wir mussten feststellen, dass es zwar gute betriebliche Präventionsprogramme und Beratungsangebote zu psychischer Gesundheit gab, die Inanspruchnahme aber weit hinter deren Potential zurückblieb. Der Hauptgrund dafür war die Tabuisierung des Themas. Daher haben wir einen strategischen Fokus beim Thema Psyche in Gesundheitsmanagement und Arbeitsschutz auf die Destigmatisierung gelegt.


Ein sehr wichtiger Katalysator für die entsprechende Programmeentwicklung war die Teilnahme an einem mehrjährigen EU-Forschungsprojekt, das auf dem Europan Pact for Mental Health and Well-being aufbaute. Über dieses Projekt erhielten wir sowohl Personalressourcen als auch sehr gute fachliche Unterstützung aus dem internationalen Projektnetzwerk. Dadurch konnten wir Analysen und Maßnahmenentwicklungen auf die Beine stellen, für die es in anderen Unternehmen vielleicht nicht so günstige Rahmenbedingungen gibt – zum Beispiel die Entwicklung eines gamifizierten eLearning-Tools für Führungskräfte, das heute auch frei erhältlich ist.

Was Sind Ihrer Meinung nach die zentralen Erfolgsfaktoren für betriebliche Kampagnen zur psychischen Gesundheit?

AB: Die angemessene Positionierung von ‚psychischer Gesundheit‘ im Unternehmen verlangt einen langen Atem. Das heißt also, über einen langen Zeitraum am Thema dranzubleiben, es immer wieder aus verschiedenen Perspektiven aufzugreifen und die Aufmerksamkeit darauf zu lenken.
Zum zweiten ist es sehr hilfreich, die richtigen Meinungsbildner im Unternehmen zu gewinnen, um das Thema zu transportieren. Im Zusammenhang damit sollten Aktivitäten zur psychischen Gesundheit eng an relevante Unternehmensprogramme und strategische Kernthemen geknüpft sein, idealerweise als integraler Bestandteil dieser. Schließlich geht es ja - wie immer im Gesundheits- und Arbeitsschutz - um den Erhalt und die Förderung von Leistungsfähigkeit, welche die Voraussetzung für Produktivität ist, also um unternehmerisch bedeutsame Handlungsfelder.


Um erfolgreich psychische Gesundheit im Unternehmen zu fördern müssen immer die Menschen UND die Arbeitsbedingungen im Fokus stehen. Neben der Unterstützung von Betroffenen ist das zentrale Präventionsinstrument die regelmäßige und flächendeckende Durchführung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung. Leider wird das hohe Potential dieser Arbeitsschutzmaßnahme für Gesundheitsprävention und -verständnis häufig stark unterschätzt.


Und last but not least achten wir bei der Programmumsetzung immer auf fachliche Professionalität und Qualität in der Kommunikation und Mediengestaltung, als Ausdruck der Wertschätzung für das Thema und die Betroffenen.

Sehen Sie Trends im Stellenwert oder Art, wie sich das Thema psychische Gesundheit im Arbeitskontext entwickelt?

UB: Als Barriere für eine angemessene Offenheit sehe ich noch immer einen Normalitätsbegriff, der immer wieder unreflektiert als Maßstab für – scheinbar – angemessenes Verhalten und Erleben herangezogen wird. Tatsächlich beruht diese Annahme von Normalität aber bestenfalls auf einem statistischen Mittelwert, der jedoch kaum auf eine konkrete Person und Situation anzuwenden ist. So tun wir doch einiges dafür, durch Kleidung, Frisuren und alle möglichen Äußerungsformen unseres Lebensstils, Individualität zur Schau zu stellen. Das heißt, jeder und jede weicht ohnehin vom Durchschnitt – oder eben der scheinbaren Normalität – ab. Wenn wir diesen Normalitätsbegriff knacken und erkennen, dass die eigentliche Normalität die Diversität ist, dann wären wir einen großen Schritt weiter.

AB: Wir stellen fest, dass das Interesse an psychologischen Themen im Arbeitskontext sehr stark zunimmt und auch der Tenor ein anderer wird: Der Schwerpunkt verschiebt sich langsam von der negativen Konnotation im Sinne von psychischen Störungen und Erkrankungen hin zu positiven und wertschätzenden Fragen nach psychischer Gesundheit. Die Covid-Pandemie und die damit einhergehende rasche Etablierung neuer Arbeitsformen hat dabei sicherlich als Katalysator für eine weitere Öffnung gegenüber psychologischen Aspekten der Arbeit gewirkt. Dieser Wandel bedeutet neue Herausforderungen an die Selbststeuerung und persönliche Gesundheitskompetenz. Insofern werden wir nahtlos unser Engagement für mehr Offenheit auch und gerade in dieser veränderten Arbeitswelt fortsetzen.
 

Die psyGA-Kampagnen-Toolbox

Der Aufbau der psyGA-Toolbox orientiert sich an dem dreistufigen Destigma-Kampagnenkonzept von Siemens. Die erste Phase schafft bzw. fördert ein Bewusstsein für psychische Gesundheit in der Arbeitswelt. In Phase zwei werden Beschäftigte eingeladen, ihre Einstellung gegenüber psychischer Gesundheit und Krankheit zu überprüfen. In der dritten Phase werden Impulse für Unterstützungsverhalten gesetzt. Für die Kampagne wurden Print- bzw. elektronische Medien, Videos mit Betroffenen, Führungskräften und SozialberaterInnen sowie ein gamifiziertes eLearning für Führungskräfte entwickelt und eingesetzt.

Auf Basis dieses Konzepts und den guten Erfahrungen bei der Siemens AG hat psyGA eine Kampagnen- und Toolbox entwickelt, die es kleinen und mittleren Unternehmen ermöglichen soll, das Thema psychische Gesundheit im Betrieb nachhaltig voranzubringen. In der Toolbox finden Sie

  • zu allen Maßnahmen eine detaillierte Anleitung zur Durchführung im Betrieb Roadmap
  • Materialen für die interne Kommunikation Materialen zur internen Kommunikation sowie
  • Geschichten von Menschen, die bereits eine psychische Krise überwunden oder gelernt haben, mit ihrer Erkrankung zu leben Fallgeschichten.

Darüber hinaus stehen verschiedene Tools und Angebote von psyGA und weiteren Akteuren zum Download zur Verfügung, um Sie bei der Umsetzung von Maßnahmen zu unterstützen.